Die Lehrerin

Roman

Gewalt in den Städten, verlassene Dörfer und ein Staat, der immer weniger handlungsfähig ist. Es herrscht Angst vor einem Umsturz. Wer kann, lebt längst in bewachten Communities. Andere klammern sich an religiöse Heilsversprechen.

Die junge Becca ist nirgends zugehörig und schlägt sich mit tristen Jobs durch. Als sich ihre Welt mehr und mehr auflöst, sind ihr Hund Bugler und der Schlüssel zu einem Haus im Wald schließlich alles, was ihr bleibt. Sie trifft eine Entscheidung. Doch Gewalt und die Vergangenheit verfolgen sie. Und dann tritt ein kleines Mädchen in ihr Leben.

Eine Geschichte über Abschied, Liebe und Loyalität aus einer Zukunft, die nicht weit entfernt ist.

Auszug aus Kapitel 1

Becca

»Es gibt wieder eine Schule.«

Becca hatte auf dem Weg keinen besseren Einfall gehabt. Also sagte sie es, wie es war. Mit ihrem Kegelhut aus dem Vietshop, in dessen Hinterzimmer Hacker mit kindlichen Gesichtern im Neonlicht Mangosaft aus Tüten getrunken hatten, stand sie auf dem leeren Parkplatz in der Nachmittagssonne. Der Hut war breiter als ihre Schultern. Schweiß lief an ihren Schläfen und am Rücken hinab, lag auf ihrer Oberlippe. Bugler stand neben ihr und hechelte. Er kannte es nicht anders, als auf dreieinhalb Beinen zu laufen, aber nach dem langen Weg war der Hund erschöpft. Hinter ihnen lag der Wald, aus dem sie über einen fast zugewachsenen Trampelpfad gekommen waren. Becca hatte am Saum des Waldes kurz innegehalten, noch einmal tief durchgeatmet und war dann aus dem Schatten der Bäume ins gleißende Licht getreten, in die Erstarrung dieses Sommertages. Kein Vogel war am Himmel.

Der Mann, der ihr ein paar Armlängen entfernt gegenüberstand, blieb scheinbar teilnahmslos. Wanderstiefel. Ein Trägerhemd, das mehr von seinem Oberkörper freiließ als es bedeckte. Zähne wie verdorbene Knoblauchzehen. Sie schätzte ihn auf fünfzig, etwa doppelt so alt wie sie. Unter dem Hals war in ungelenken Buchstaben Born On A Cyber Monday tätowiert. Ein Feiertag, den es schon seit Jahren nicht mehr gab. Auf dem Oberarm das Symbol der Siedler: eine Vogelfeder in einem Kreis.

»Halt den Köter fest. Passiert was, knall ich ihn ab.« Sein Jagdgewehr mit dem speckigen Schaft war weder auf sie noch auf Bugler gerichtet, es lag in seinen verschränkten Armen. Keine echte Drohung also.

»Bist aus der Stadt, was? Sehe ich sofort. Wer geht so wie du in den Wald?« Er musterte sie, sein Blick blieb eine Sekunde lang auf ihrer Brust. »Kannst du schlachten? Kochen?« Becca zwang sich, zu lächeln. Sie würde ihren Stolz hinunterschlucken. Nicht alles durch einen unbedachten Moment zerstören. Sie wusste nicht wie bedeutend er hier war. Lass ihn reden, dachte sie.


»Na gut. Warte hier.« Es funktionierte. Der Mann bewegte sich zwei Schritte rückwärts, griff dann das Gewehr mit einer Hand und ging zurück zu dem Gebäude, durch das der Eingang zu dem ehemaligen Campingplatz führte. Sie wischte sich den Schweiß unter der Nase weg und betrachtete, was vor ihr lag. Ein Mülleimer mit dem Logo einer Eiscreme-Firma, die es nicht mehr gab, ein Fenster der Rezeption war mit Sperrholz verkleidet, eine andere Scheibe mit einem Gitter geschützt, dahinter Aushänge, vielleicht Regeln oder Preislisten, längst hinfällig geworden. Eine Hecke umgab das Gelände, dicht und unüberwindlich. Im Schatten des Durchgangs unter dem Eingangsportal sprach der Tätowierte jetzt mit einer Frau. Beide sahen zu Becca herüber. Der Mann gestikulierte.

Kochen, schlachten. Sie beherrschte auf dem Skateboard einen Kickflip mit geschlossenen Augen und konnte fast akzentfrei kambodschanische Nudelsuppen bestellen. Ihr war klar, dass sie hier nicht auf Augenhöhe sprach, sondern Bittstellerin war. Die Stadt, die Becca verlassen hatte, kam ihr jetzt wie eine Verlockung vor. Die kühle Luft, die sie umhüllte, wenn sich die Türen eines klimatisierten Geschäfts hinter ihr schlossen. Ein Softdrink, der durch einen dicken Strohhalm ihren Gaumen erreichte. Sich einen Glyder kommen lassen, wenn die Füße vom Laufen schmerzten. Weggehen, wenn ihr etwas nicht passte.

Der Mann kam zurück, neben ihm die Frau. Sie schien älter als er zu sein, war sehnig und ebenso gegerbt. Auch sie trug trotz der Hitze Wanderstiefel, dazu einen Lederhut. Der Schotter knirschte unter den Schritten der beiden. Die Frau kam gleich auf den Punkt. »Hast du ihm das angetan?« Sie deutete auf Bugler und meinte wohl sein Bein. Becca verneinte. Am Gürtel der Frau hing ein Messer mit Hirschhorngriff.

»Er sagt, du bist Lehrerin. Schön. Siehst recht jung aus.« Die Frau starrte sie an. »Woher willst du wissen, dass es hier Kinder gibt?«

»Ich habe Fahrräder gesehen. Neulich. Hier, an der Hecke.«

»Schnüffelst du hier herum?«, fragte der Tätowierte. Die Frau beachtete ihn nicht. Allzu wichtig scheint er nicht zu sein, dachte Becca.


»Schön. Dumm bist du nicht. Und jetzt sag: Wieso glaubst du, dass wir dich gebrauchen können? Dass wir dich hereinlassen?«

»Ihr müsst mich nicht hereinlassen. Ich sagte ja, es gibt eine Schule. Das Haus auf der Lichtung.« Sie sah die beiden an. Sicher kannten sie es. Und jetzt war es raus. Sie wussten, wo sie zu finden war. Aber wie hätte sie es verhindern sollen? Das Risiko hatte sie eingehen müssen.

»Es ist nur eine kleine Schule, das könnt ihr euch ja denken.« Dass es noch gar keine Schüler gab, verschwieg sie. »Aber ich weiß, dass die Schule im Tal abgebrannt ist. Dass es in der Gegend keine mehr gibt.«

»Abgebrannt. Angezündet. Was spielt das für eine Rolle? Wir haben unsere Kinder sowieso nie hingeschickt.«

Also haben sie Kinder, dachte Becca, aber sagte nichts. Sie wollte nicht vorlaut wirken. Die Frau schien eine Art Anführerin zu sein.

»Ja, wir haben hier Kinder«, sagte die Frau, als hätte sie in Beccas Gedanken gelesen, »gesunde, freie Kinder. Was kannst du ihnen denn zeigen? Wie man sät und Wasser sammelt, wissen sie.«

»Sollten sie nicht auch wissen, wie man die Größe eines Flügels berechnet?« Becca zeigte auf eines der Windräder auf dem Gelände des Campingplatzes. Es stand still.

Sie musste vorsichtig sein, viele der Siedler waren religiös. Irgendwo zwischen Neo-Apostolikern und Kirche der Erlösung. Diese Frau kam ihr schroff vor, aber weltlich. So jemand müsste für Argumente zugänglich sein.

»Kann mir nicht vorstellen, dass jemand von uns– Außer vielleicht, du machst dich ein bisschen hübsch«, sagte der Tätowierte und grinste. Auch er schien nicht zu den Religiösen zu gehören, sie redeten nicht so. Es machte ihn nicht sympathischer. Wahrscheinlich ein Einzelgänger, dachte Becca, der sich den Regeln eines Stammes unterworfen hatte, der ihm nun Obdach und Schutz bot. Damit hätte er ihr etwas vorausgehabt.

»Sei still«, sagte die Frau. Er gehorchte. Dann ging sie in die Hocke und strich Bugler über den Kopf, der sich das gefallen ließ. »Hast du Durst? Komm mit, er bekommt Wasser.«


Zu dritt gingen sie zu der Anlage, Becca neben der Frau, der Tätowierte folgte ihnen. Sie spürte seine Blicke, sie wusste, dass er sie taxieren, sie beurteilen würde. Die Frau füllte im Inneren der ehemaligen Rezeption eine Plastikschale und stellte sie Bugler hin. Becca genoss den Schatten, während der Hund gierig trank. Sie konnte jetzt in die Anlage spähen. Das Gelände hinter der Hecke war leicht abschüssig und weitläufiger, als sie erwartet hatte. Sie sah Holzhäuschen mit Gardinen. Wohnwagen ohne Räder, an denen Grünspan war, zwei weitere Windräder und Sonnensegel über einer Feuerstelle, es musste eine Art Versammlungsplatz sein. Einige Fahrzeuge, außer Betrieb, noch mit Verbrennungsmotoren, hatte man zusammengeschoben, vielleicht schlachteten sie sie noch auf irgendeine Weise aus. Es gab Gemüsebeete, sie sah ein paar Frauen in langen Röcken und einen großen Tank auf Stelzen, in dem sie wohl Regenwasser sammelten. Alles an dem Ort war zweckmäßig, nichts schön. Kinder waren nicht zu sehen.

»Hör zu, es reicht jetzt«, sagte die Frau schließlich, »es ist nicht meine Entscheidung allein. Mach dir keine großen Hoffnungen. Ich jedenfalls brauche dich nicht. Dein Hund hat getrunken. Du solltest besser auf ihn achtgeben. Wenn du sonst nichts anzubieten hast, dann verschwinde.«

Becca nickte, nahm es hin. »Wenn ihr es euch überlegt: Ihr wisst jetzt, wo ihr mich findet. Ich heiße Becca. Danke für das Wasser.«

Ihr hatten sie nichts angeboten.